BROTZEIT
1997 Berlin, Galerie Am Scheunenviertel



Ungesättigte Kunsthungrige - bitte zu Tisch!

Aus: Berliner Morgenpost (Feuilleton, Seite 15), 14. Januar 1997

Der Tisch in der Galerie am Scheunenviertel mutet etwas karg an und ist lediglich mit einigen Wassergläsern und Siebdrucken von Brotlaiben gedeckt. Hocker laden zum Platznehmen ein, und schon ist der Besucher Teil eines Kunstobjektes. Sibylle Ritter Ausstellungsprojekt "Brotzeit" ist Auftakt einer einjährigen Ausstellungsreihe zum Thema Lebensmittel, das rund um die Esskultur und ihre Vorlieben bis hin zur Sinnlichkeit und Gier kreist.
Zwölf Künstler werden hier ihre Phantasien ausreizen. Sibylle Ritter allerdings nähert sich dem Objekt in materiellen Metamorphosen. Zunächst wird das Motiv des Brotes in Fotoserien starr gebannt, um es dann in Aktion zu zeigen und die Gestik des Nehmens und Gebens zu illustrieren. Mit einem Selbstauslöser hat die Künstlerin einen Gast und sich in Szene gesetzt.
In Fotomontagen uns Siebdrucken tastet sie die Oberfläche des krustigen Brotes ab, um es zu einer abstrakten Landkarte zu verzerren oder etwa bandwurmartig in die Länge zu ziehen. Schließlich wird es in imaginäre Einzelteile zersägt und schwebt als surreales Luftschiff in den Wolken. Das Brot wird zum Synonym für den Hunger nach Bildern und muß nicht dem gierigen Biß, sondern den verschlingenden Blicken standhalten. Am Ende der visuellen Reise angelangt, findet es sich nur noch als goldbestäubter Schatten auf transparentem Glas.
Wer sich nicht satt sehen kann, darf auf die Experimentierfreudigkeit der folgenden Künstler im Lebensmittelreigen gespannt sein, der mit der magischen Ausstellungszahl 99 beginnt. Von runden Jubiläen hält die Galeristen nämlich nicht viel, ihr ist die Vorfreude auf kommende Projekte lieber als sentimentales Rückblicke.
Seit 1989 waltet und schaltet sie hier und hat die 1987 als kommunale Volkskunstgalerie im Osten eröffnete Institution nach dem Mauerfall mit einem rasanten Ausstellungsrhythmus zum engagierten, internationalen Kunstforum umgewandelt. Unter Aufsicht des Kunstamts Mitte kann sich diese Galerie einige Wagnisse ohne Verkaufsdruck gönnen, Dazu gehören originelle und handgebundene Kataloge und Sammelmappen der Künstler. Für das aktuelle Programm wird der Besucher mit einem Pappkarton voller Einladungen und Lebensmittelmarken ausgestattet. Bei der abschließenden Tombola wartet ein Künstleressen auf den hungrigen Gewinner.

Von Christina Wendenburg


Kunst geht durch den Magen

Und dazu guten Appetit: Lebensmittel Kunst - Sibylle Ritters "Brotzeit" in der Galerie am Scheunenviertel

Aus: Der Tagesspiegel, 18. Januar 1997

Anfang Januar verschickte die Galerie am Scheunenviertel ein Kästchen. Darin fand sich zwischen apfelförmigen Konfetti ein Block mit zwölf nummerierten Marken. Dazu die Einladungskarte zur 99. Ausstellung der kommunalen Galerie, die ihr 10jähriges Bestehen feiert: Sibylle Ritters "Brotzeit". Ei Feld ist zum Aufkleben von Marke Nr.1 bestimmt. Das Jahresprogramm 1997 steht unter dem Thema Lebensmittel, die Galeristen Tatjana Hofmann zeigt dazu zwölf Ausstellungen. Kunst als Lebensmittel heißt für sie "Mittel zum Leben".
Brotlos ist die Kunst bei Sibylle Ritter nicht, auch wenn sie allein die Absolventin der Stuttgarter Kunstakademie noch nicht ernährt. Wohin man blickt: knusprige Bauernbrote; als Bildobjekte "Geteilte Brote", in fotografischer "Metamorphose", in Messing geätzt und zu papierweißen Prägetiefdrucken umgewandelt. Die rissige Struktur der Kruste gleicht einer Landkarte. Seit anderthalb Jahren ist für die Künstlerin "Brotzeit". Brot war auch das konzeptionelle wie reale Grundnahrungsmittel für erste Fotos und die Fotodokumentation der Aktion "Brotspeisung".
In der Galerie ist der Tisch aus rohem Fichtenholz mit Drucken blauer Brote gedeckt. "Unsere tägliche Kunst gib uns heute" verkündet einer der Leuchtkästen Andere zeigen Wasser und Brot. Für die Installation "Brotzeit" wird die Abbildung des Laibs zur abstrakten Lichterscheinung, wie eine Reliquie in einem Brot(-leucht-)kasten aufbewahrt. Ihr "Brotregal mit transparenten Brotdrucken auf den Glasböden symbolisiert für Sibylle Ritter "das Fenster zur Welt". Für sie hat alles, was wir sehen und über unsere Sinne wahrnehmen, die Funktion, uns zu ernähren.
Zu allem Nährmittelüberfluß fertigte Ritter nach dem vollplastischen Abguß ihres Kopfes eine Keramikform. Darin wurden Köpfe aus Brotteig gebacken. Man kann sie kaufen und die Selbstporträts scheibenweise geschnitten verspeisen. Wem dies zu kannibalisch erscheint, klebt besser brav alle Lebensmittelmarken ein. Zum Jahresende nimmt man damit an einer Tombola teil. Als Hauptgewinn winkt die Einladung zum Abschlussschmaus.

Von Elfi Kreis