Flyers & Folders


Es geht um die Böden unserer Kultur
und um deren Belastbarkeit unter dem
Gewicht von Sehnsucht, die der Kunst
einen dehnbaren Grund bereitet.

Sibylle Ritter



Blind Date für einen Falter

Lange lag sie, kaum atmend, Erde atmend, wie inkrustiert in den Grund, die Sinne, abgesandt in die Tiefe, um zu tasten und zu erfühlen, was unter den begehbaren Gründen Halt gewährt. Sie sah Abgrund und Tiefe nebeneinander. Sie fand Hohlräume, Reste alter Behausungen, Knochen, fettigen Lehm. Sie lauschte seltsamen Geräuschen: Leise krachend, stöhnend und mahlend. Sie fühlte langsame Bewegungen, die dehnten, brachen und sprengten und es gab Gerüche, an die sie sich gewöhnte. Sie hatte wissen wollen, welches Gewicht dem Grund zuzumuten wäre, auf dem sie ihr Werk bald beginnt.
Die Zeit verging ohne Wandel des Lichts, und sie wachte im Dunkel. Die vollendete Schlichtheit ihrer Handlung verlieh ihr Ausdauer, bis an einem Frühlingstag etwas ihren Fuß berührte.
Sie löste sich aus ihren Eindrücken, hob ihr Gesicht und stand auf. Langsam nur gewöhnte sich ihr Auge ans Licht. Nur das eine, das andere hing fest in erdigem Wurzelwerk. Sie sah in den Himmel, fühlte die Luft und das Licht, lächelte einäugig und suchte nach einer Richtung. Nicht weit von ihr stand ein Baum - eine Eiche. Sonst gab es nur die Wiese und den Wald, der die Gegend säumte. Sie erinnerte sich an die Wurzeln, die sie gesehen hatte. Jene gehörten wohl zu diesem Baum. Sie waren kräftig und schienen sich endlos zu strecken. Ein Wurzeltrieb war im Laufe der Zeit auf sie zu gewachsen und hätte sie später irgendwann einmal durchbohrt.
Barfüßig ging sie los. Sie wollte den Baum erklimmen und sich zunächst mit seinen Blättern bedecken, denn sie war nackt und ohne Schutz. Wie und wann sie eigentlich hierher gekommen war, wusste sie nicht mehr. In der Krone des Baumes wollte sie sich in Ruhe erinnern und dann Ausschau
halten. Sie lief und hielt nach wenigen Schritten inne, als sie bemerkte, dass sie auf einen Falter getreten war, der sich gerade sonnte, sich mit Licht und Wärme auflud. Sie hatte ihn flach getreten und dem Erdboden gleichgemacht, ihn der Fähigkeit beraubt, abzuheben und die Gründe jederzeit zu verlassen. Sein Abdruck blieb an ihrem Fuß haften.
Sie betrachtete ihr Werk und dachte: "Solange ich dalag und in die Gründe schaute, habe ich niemandem geschadet. Kaum löse ich mich aus der Haltung, zwinge ich sie einem anderen Wesen auf." Doch sie kam nicht weiter in ihren Gedanken, denn das schuldige Bein wurde mit einem Mal federleicht. Ihr ganzer Körper lud sich auf mit Leichtigkeit. Wie ein Wunder verlieh ihr dieser tragische Tritt einen Sinn, den sie bisher nicht kannte. Sie dankte dem Tier, tanzte fast schwerelos wenige Zentimeter über dem Boden und begrüßte den Frühling mit lautem Gesang und wehendem Haar.
Was dann geschah, sah ich aus einiger Entfernung, denn ich war selber auf dem Weg zu jenem Baum, um keimende Eicheln zu sammeln. Die Eiche, an dessen Wurzeln ihre Blicke so lang gehaftet hatten, verwandelte sich in einen Mann. Und da sie sehr hungrig war, ging sie zu ihm und aß ihn auf. Das geschah ganz ruhig, in aller Stille und ohne Schmerzen. Vielleicht atmete sie ihn auch ein. So genau konnte ich das nicht sehen, denn ich sah nur wie der Mann in ihr verschwand. Kaum war das geschehen, öffnete sich zögernd ihr zweites, erdreiches Auge und sie erblickte mich, die ich mich sprachlos abwandte, um dem Unheimlichen zu entsagen. Später, als sie leichten Fußes fortgegangen war, suchte ich den getretenen Falter, hob ihn auf und trug ihn, umschlossen von beiden Händen, zu mir nach Hause.

Sibylle Ritter 2000


Ausstellung mit dieser Werkgruppe:

2001 Ostfildern-Ruit, Städt. Galerie im Rathaus Ruit FLYERS & FOLDERS