BROTZEIT



Wenn Hunger beim Anblick eines bestimmten Bildes besser auszuhalten wäre als vor einer leeren Wand, wäre das endlich ein überzeugender Grund, sich mit Kunst zu umgeben?
Überlebt derselbe Mensch beim Anblick eines guten Kunstwerkes länger als beim Blick auf das, was er gewohnt ist zu sehen? Kann Kunst eine Rolle spielen, nicht nur als kulturelle Bereicherung und visueller Reiz, sondern für den Erhalt physischer Substanz?
Wie tief dringt Kunst ein? Geht vom Kunstwerk eine Kraft aus, die uns stärkt wie ein Butterbrot? Reicht mir eines Tages der Anblick von Georgia 0´Keefes "Orientalische Mohnblumen", um, vom eindringenden Rot belebt und genährt tagelang ohne Brot zu sein? Erst im Laufe meiner Brot-Arbeiten habe ich begonnen, mir Fragen dieser Art zu stellen.
Meine "Brotzeit" begann jedoch mit dem klaren Satz "Kunst ist Nahrung", und es ging mir darum, zu zeigen, dass ich der Kunst dieselbe elementare Bedeutung beimesse wie dem täglichen Brot.
Jener grundlegenden Aussage widmete ich mit der "Brotzeit" eine Reihe von Arbeiten, die im Laufe der vergangenen vier Jahre nach und nach entstanden sind. Dabei spielt, ausgehend von einer Schwarzweiß-Fotografie, die Seitenansicht eines bestimmten Brotlaibes die zentrale Rolle.
Dieses Brot wird immer wieder fokussiert. Während meiner "Brotzeit" - so nenne ich auch den Zeitraum, in dem die ausgestellten Arbeiten entstanden - verwandelte ich ein reales, essbares Brot in einen geruchlosen und haltbaren Gegenstand zur reinen Betrachtung. Unter anderem führte ich es in einen transparenten, goldschimmernden Abdruck auf Glasscheiben über.
Diese durchsichtigen Brotbilder sind Fenster, durch die hindurch die Welt betrachtet werden kann, und die vor Augen führen, dass alles was wir sehen, uns ernährt und formt. Ganz unmerklich werden wir zum Abbild dessen, was wir im Laufe der Jahre in uns aufgenommen haben. Unsere Sinne, besonders aber unsere Augen, sind wie Münder der Seele, durch die sich die Essenz alles Gesehenen und Erlebten auszehrend oder aufbauend auswirkt.
Wenn Kunst Nahrung ist, der ich denselben Stellenwert einräume wie dem Brot, dann möchte ich in meiner Eigenschaft als Künstlerin vor allem die Fähigkeit zur Differenzierung wecken.
Das Bild des Brotes verwende ich in der "Brotzeit" als eine Metapher für Kunst im allgemeinen. Dem Hunger entspricht so gesehen eine Sehnsucht, die in der Kunst ihren Ausdruck, aber auch einen Weg in die Erfüllung findet.
Es geht hier also nicht in erster Linie um das Nachdenken um unser tägliches Brot, sondern um ein Synonym für die ebenso reale, tägliche Sehnsucht nach Unbegreifbarem und Unerreichbarem, das nicht einverleibt werden kann, sondern dem wir uns nur annähern können - der Abstand bleibt dabei immer so groß wie das Ausmaß unserer Angst vor den spürbaren Grenzen unsere Rationalität.
Eine Form dieser Annäherung ist die Kunst. Dabei denke ich auch an die Musik und den Tanz. Kunst ist eine Maßnahme zur Stillung von Sehnsüchten, die neben Hunger und Durst die Lücken im Leben spürbar machen und unsere Existenz vor dem Hintergrund des Mangels beleuchten.

August 2000 Sibylle Ritter



Ausstellungen mit dieser Werkgruppe:

1995 Stuttgart, Rathenaustr.21 SPEISUNG (Aktion)
1996 Stuttgart, Galerie St.Eberhard SPEISUNG
1997 Berlin, Galerie Am Scheunenviertel BROTZEIT
2000 Ulm, Deutsches Brotmuseum BROTZEIT MIT SIBYLLE RITTER

2005 Stuttgart, Galerienhaus Stuttgart, Galerie Berthold Naumann, BROTZEIT